Ist die Moderne noch zu retten? (dietmar steiner,profil)

Architektur. Wer übernimmt die Verantwortung für Österreichs Baudenkmäler des 20. Jahrhunderts? Und wie kann man das? Dietmar Steiner über drängende Fragen im Umgang mit moderner Architektur.

Soll das Kahlenberg-Restaurant von Erich Boltenstern gerettet werden? Gibt es eine Lösung für die "Stadt des Kindes" von Anton Schweighofer? Wer erinnert sich noch an Ernst Hiesmayrs "Clima Villenhotel" in Grinzing? Die drei genannten Objekte sind wesentliche Bauten der Wiener Baugeschichte, die derzeit in Bedrängnis sind – und grundsätzliche Fragen zum Umgang mit dem baukulturellen Erbe aufwerfen. Alle drei sind Beispiele und Monumente einer Architekturgeschichte, die nur einem verhältnismäßig kleinen Kreis von Kennern bekannt sind. Sie konnten bis heute nicht jenen emotionalen Wert erlangen, der - architekturhistorisch völlig belanglosen - Bauten wie den Sophiensälen oder dem Ronacher gewidmet wird.

Es ist keine neue Erkenntnis, dass sich die "Wiener Befindlichkeit" immer noch im 19. Jahrhundert verkrallt und die baukulturellen Leistungen des 20. Jahrhunderts weit gehend ignoriert. In Wien wurde die moderne Architektur erfunden - und anschließend erfolgreich aus Österreich vertrieben. Das akademische kunsthistorische Establishment ignoriert bis heute, dass auch nach "Wien um 1900" noch baukulturelle Leistungen erbracht wurden. Daraus entsteht die heutige Ratlosigkeit im Umgang mit den baukulturellen Monumenten des 20. Jahrhunderts.
Architekt Ernst Hiesmayr hat bereits Anfang der sechziger Jahre - zwischen 1963 und 1965 - in Nussdorf, an einem malerischen Ort inmitten der Weinberge, das damals revolutionär moderne "Clima Villenhotel" gebaut: Pavillons aus Sichtbeton, raumhohe Verglasungen, umlaufende Balkone. Die schicke Wiederentdeckung der coolen Sechziger
hat der Bau nicht mehr als Hotel erleben dürfen. Derzeit wird es vom neuen Eigentümer, der Immobilienabteilung der Generali Versicherung, zu exklusiven Mietwohnungen umgebaut. Das allerdings überzeugende Projekt des Architekten Hans Peter Petri versucht mit Um- und Zubauten die Gratwanderung zwischen Erhaltung und heutigen Anforderungen zu erfüllen. So wird die "alte" Architektur in ihrer Erscheinung verschwinden, die Atmosphäre des von Hiesmayr geschaffenen Ortes aber gewahrt.

Diese drei rezenten Wiener Beispiele eint ein generelles Dilemma, mit dem sich die Fachwelt schon seit Jahrzehnten beschäftigt: der Denkmalschutz der modernen Architektur. Denn dieser unterscheidet sich ganz grundsätzlich vom Denkmalschutz der Jahrhunderte zuvor. Die moderne Architektur des 20. Jahrhunderts hat in ihrer Technikgläubigkeit mit immer neuen Materialien und Strukturen experimentiert: minimale Stahlprofile, große Glasflächen, kurzfristig entwickelte Kunststoffe, neue Materialkombinationen. Seit über hundert Jahren ist die Geschichte der modernen Architektur auch eine Geschichte der Materialexperimente, die zwangsläufig im Lauf der Zeit durch immer bessere Erkenntnisse verifiziert wurden. Die moderne Architektur erfordert also einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel für die Denkmalpflege. Denn für die Restaurierung von antiken Steinmauern, verputzten Ziegelmauern und alten Holzdachstühlen gibt es heute erprobte Techniken. Die stilistisch und architektonisch richtige Entscheidung bei der Restaurierung zu treffen bleibt immer noch eine kulturelle Entscheidung unserer Zeit. Deshalb ist jede denkmalpflegerische Tätigkeit heute auch eine zeitgenössische architektonische Entscheidung. Nicht selten wird bei der Restaurierung historischer Architektur die spezifische Aura und Atmosphäre zugunsten eines touristischen und disneyfizierten Erscheinungsbildes zerstört. Dramatischer noch ist das Problem der denkmalpflegerischen Behandlung der Architektur der Moderne. Ihr ursprüngliches Erscheinungsbild scheitert dabei regelmäßig an heutigen bauphysikalischen Notwendigkeiten. Eine ausreichende Wärmedämmung war bis Ende der siebziger Jahre praktisch unbekannt, und bautechnische Details waren fast immer prototypische Sonderanfertigungen. Und diese Entwicklung schreitet fort. Die Lebensdauer zeitgenössischer Monumente wie beispielsweise des Bilbao-Museums von Frank O. Gehry ist aufgrund der Technologie des Fassadenaufbaus als durchaus begrenzt zu bezeichnen. Auch in den jüngsten Großausstellungen der Stararchitekten Rem Koolhaas und Herzog + DeMeuron war eine überbordende Fülle von Materialexperimenten ausgebreitet, über deren Lebensdauer und Verträglichkeit naturgemäß keine Auskunft erteilt werden kann. Die "Denkmalfähigkeit" moderner Architektur ist und bleibt ein Problem. So konnte Otto Wagner nicht wissen, dass die verschiedenen Metalle seiner Kuppel der Steinhof-Kirche chemisch reagieren würden und der Korrosion Vorschub leisteten. Und die Computergläubigkeit der letzten Jahre hat bei vielen voll verglasten Bürohäusern in ganz Europa zu erheblichen klimatechnischen Fehlkalkulationen geführt, die in der Praxis, wie jüngste Untersuchungen belegen, dramatische Funktionsmängel zeitigten. Angeblich laufen in Wien Wetten unter Insidern, wie lange wohl die ökonomisch bis zum Minimum abgespeckte Fassade des Millennium Tower halten wird. Demgegenüber steht die Fassadenkonstruktion des neuen Uniqa Tower, die auf avancierteste Hochhaustechnologie zurückgeht. Allerdings beruht sie auf derart ausgeklügelten Computerprogrammen, dass man gar nicht daran denken mag, was der Wurm eines pubertären Hackers hier anrichten könnte.
So könnte man konservativ-polemisch behaupten, dass die moderne Architektur mit ihrem experimentellen Anspruch gar nicht auf kulturhistorische Ewigkeit angelegt sein kann. Hat die Moderne nur unrettbaren Schrott produziert? Und zwar unabhängig davon, ob es sich um reine Spekulationsbauten oder kurzfristig gehypte neue Monumente der Architektur handelt? Nein. Das Gegenteil ist der Fall. Der Denkmalschutz der Moderne verlangt offensichtlich nach einer neuen Strategie. Nach einer, die auf die Atmosphäre und die strukturelle Substanz des Gebäudes bezogen ist. Einer Strategie, die im Geiste der Idee des Objekts um- und weiterbauen kann. Einer Strategie, die eben nicht auf das ursprüngliche Erscheinungsbild bezogen ist, sondern die Spuren des Originals in die Gegenwart transferiert. Das ist aber das genaue Gegenteil dessen, was derzeit die "alte" Denkmalpflege betreibt. Ihr geht es, die Wiener Weltkulturerbe-Diskussion belegt dies authentisch, um die Erhaltung des touristischen "Bildes" und eben nicht um die verwandelbare Substanz des Gebauten.
So könnte auch die "alte" Denkmalpflege von der jetzt und zukünftig notwendigen "modernen" lernen. Die Schlüsse daraus für unsere erwähnten akuten Wiener Problemfälle? Es ist kein Zufall, dass alle drei Objekte bis vor kurzem gar nicht unter Denkmalschutz standen, obwohl sie wesentliche und authentische Zeugnisse der österreichischen Baukultur sind. Beim Kahlenberg-Restaurant hat sich das Denkmalamt nun eingeschaltet, hat festgestellt, dass viele originale Teile Boltensterns noch vorhanden sind. Ein intelligenter Umgang mit der vorhandenen Substanz wäre also auch für einen Um- und Weiterbau möglich. Eine diesbezügliche Untersuchung durch das Architekturbüro Neumann+Steiner wird derzeit vom Denkmalamt und der Stadt Wien finanziert, weil sich der Bauherr dazu nicht bereit erklärte. Das Ergebnis soll in den nächsten Wochen vorliegen.
Dennoch ist eine weitere Diskussion zu diesem Projekt nötig. Denn das ist der Sinn eines "Denkmals": den Diskurs über Werte und Bedeutungen zu führen, unabhängig vom Ergebnis. Die ignorante Tabula-rasa-Lösung ist jedenfalls nicht dazu geeignet, unser Verhältnis zur Wiener Moderne und auch zum Ständestaat zu thematisieren. Die verantwortlichen Stellen zögern derzeit noch. Aber eine saubere, dem Ort adäquate Vorgangsweise bestünde in einem Gutachterverfahren unter mehreren qualifizierten Architekten. Denn es ist keine private Angelegenheit allein, es ist auch eine öffentliche Sache, wie sich der landschaftlich und städtebaulich wichtigste Punkt Wiens in Zukunft als Zeichen der Stadt präsentiert. Allein die Geschichte des Ortes zeigt, dass es sich hier um eine Aufgabe von mitteleuropäischer Bedeutung handelt. Auch wenn das öffentliche Bewusstsein diese Tatsache seit Jahrzehnten verdrängt. Für den Kahlenberg ist die einmalige architektonische Chance einer "Wiener Stadtkrone" gegeben, für ein Projekt, das der Bedeutung des Ortes auch architektonisch entspricht und die historischen Spuren
angemessen berücksichtigt.
Im Gegensatz zum Kahlenberg-Projekt scheint es bei Hiesmayrs "Clima Villenhotel" gelungen zu sein, mit einem architektonisch engagierten Projekt dem Geist und der Atmosphäre des Ortes mit Respekt zu begegnen. Der Investor ist hier überzeugt, dass sich das Projekt trotz des erhöhten Aufwands für den Um- und Weiterbau rechnen wird. Das wäre ein Musterbeispiel für die notwendige neue Strategie es Denkmalschutzes. Auch wenn zwischen dem alten und dem neuen "Bild" des Baus Welten liegen werden, bleibt die für Wien einzigartige, wunderschöne Komposition der Anlage erhalten. Offen ist diese Frage noch bei der "Stadt des Kindes". Ein Schicksal wie dem "Clima Villenhotel" ist ihr zu wünschen. Die Stadt Wien als Verkäufer muss wissen, dass es sich dabei nicht um billiges Bauland, sondern um eine historisch mit Aufwand belastete Struktur handelt. Die Bauträger müssen wissen, dass ihnen dafür ein erhöhtes Engagement abverlangt wird. Dann kann ein Ort entstehen, der Neues bietet und an das Bestehende in seinen Spuren erinnert. Das Gesamtproblem ist heute schon gewaltig - und wird es auch in Zukunft sein. Im Achleitner-Archiv des Architekturzentrums Wien sind rund 20.000 Objekte der Moderne in Österreich verzeichnet. Kaum eines davon steht derzeit unter Denkmalschutz. Wenn sich die verantwortlichen Behörden und die Politik nicht offensiv einer neuen Strategie gegenüber dem baukulturellen Erbe des vergangenen Jahrhunderts stellen, wird Österreich endgültig in ein monarchistisches Disneyland verwandelt werden.

Quelle:
"profil" Nr. 32/04 vom 02.08.2004 Seite: 98 Ressort: Kultur ; Dietmar Steiner